Freitag, 10. Mai 2019

Denn sie wissen nicht, was sie wollen

Es ist Wochenende. Ich habe frei, verbringe das Wochenende mit Freundinnen. Nach dem ein oder anderen Glas Wein reden wir darüber, was uns derzeit beschäftigt. Keine von uns scheint sich ihrer sicher zu sein. Unzufriedenheiten im Berufsleben, Veränderungswünsche im privaten Umfeld, neue Vorlieben.

Was uns alle vereint: jeder von uns ist in einer Phase, in der wir zweifeln. Langsam dahinterkommen, wer wir sind, was wir wollen – und was eben nicht. Ob Menschen anzuleiten, in einem Team zu arbeiten oder Rezepte zu ersinnen: Was wir vielleicht gut können – und möge es noch so simpel erscheinen - könnte es ein valider Weg sein? Ein Weg in die Zukunft, möglicherweise ein Beruf?

Wir alle haben Jobs, die wirklich gut sind, verdienen unser eigenes Geld, stehen auf eignen Beinen. Anfang / Mitte Dreißig, erfolgreich. Haben wir uns doch immer so vorgestellt. Oder nicht? Und da kommt er, der Zweifel. Ob da noch mehr ist. Nach dem Sinn unserer Arbeit.

Wollen wir das, was wir tun wirklich tun? Es ist spannend, verantwortungsvoll und manchmal mehr, manchmal weniger anstrengend. Aber erfüllt es uns? Ist es das, was wir wollen? WOLLEN?

Ein Gespräch mit meinem Chef zeigt mir, dass dies nichts Ungewöhnliches ist. Nach einem Scherz über Midlife-Krisen lerne ich, dass es in diesem Alter offensichtlich recht typisch sei, darüber nachzugrübeln, was wir eigentlich wollen.

In der Schule, ja schon in der Grundschule, gilt es früh, Bestleistungen zu erbringen. Die erste Stufe: die Gymnasialempfehlung erhalten. Haben wir das nicht erreicht, kommt früh das Gefühl auf, nicht genug zu sein, versagt zu haben. Völliger Blödsinn, denn im Grunde bin ich erst jetzt in der Lage manche Dinge, ob es Kunst oder Geschichte ist, die Aufmerksamkeit zu widmen, die es wert ist. Mit 17 war ich das nicht. Hat man die Hürde jedoch genommen, geht es mit eiligen Schritten dem Abitur entgegen. Latein oder Französisch – die Wahl hängt davon ab, was man mal studieren wolle, bekomme ich gesagt. Muss ich das wissen – in der 7. Klasse? Alles auf gute Noten setzen also. Sonst bekomme man nicht, was man will – wenn man denn wüsste, was das ist.

Nach einem Abitur mit einer 1 vor dem Komma, steht die Frage an, welches Studium denn nun in Angriff genommen werden solle. Ich entscheide mich für eine Mischung aus naivem Wunschdenken und dem, was mir am meisten Spaß gemacht hat. Oder worin ich gut war. Ganz genau vermag ich das nicht zu unterscheiden. Biologie. Irgendwas mit Tieren, nur ohne das Einschläfern sozusagen. Nach einem schnellen Ritt durch den ersten Bachelorjahrgang stehe ich flugs wieder auf der Straße und fühle mich wie nach der Schule, nur mit einem Studienabschluss in der Tasche. Yeah. Reif fürs Leben? Hm, nein. Weiß ich mehr über mich selbst? Kaum. Aber ich weiß, was ich nicht will und entscheide mich so für ein Studium der anderen Art, denn schreiben kann ich, mag ich und will ich – soviel stand fest. Journalismus. Eine Begeisterung. Als danach weder Job noch Selbstständigkeit von Geldsegen gekrönt ist und man ein Alter erreicht, wo man sich endlich auch mal was gönnen möchte oder soziale Verpflichtungen hat, gebe ich dem finanziellen Druck einer Festanstellung nach. Selbstfindung? Was für Esoteriker! Doch ich entdecke, dass ich Menschen überzeugen kann, mit ihnen arbeiten, etwas bewegen. Über 8 Jahre in einem Job, in dem ich irgendwann merke, dass etwas bewegen wollen auch Grenzen hat. Ich über den Tellerrand schauen muss und mal etwas bewegen muss – nämlich mich selbst. Der nächste Job zeigt, dass ich noch viel zu lernen habe, das kann Spaß machen und bringt mich weiter. Das Rad läuft wieder schneller, ebenso scheint es die Zeit zu tun.

Nach so einem Lebenslauf, oder irgend einem Ähnlichen, führt irgendwann genau dieses Lernen dazu, dass wir uns selbst kennen lernen. Ja, erklärtes Ziel (und von manchen auch Mitte 50 unerreicht) und dennoch führt es unweigerlich zu der Frage nach dem Sinn.

Dem Sinn unseres Selbst, unserer Arbeit, unseres Schaffens. Was möchten wir hinterlassen? Wo möchten wir noch hin? Wir glauben nicht, dass es morgen zu Ende wäre, aber müssten wir nicht heute anfangen mit dem, was wir eigentlich mal erreicht haben wollen? Wird es jetzt ernst?

Am Anfang wissen wir nicht, was wir wollen. Das ist natürlich und auch gut so. Wir müssen das erst herausfinden. Doch nach Studium und zwei, drei Jobs gerät diese Frage zunehmend in Vergessenheit. Wir bauen unseren Lebenslauf aufeinander auf, Möglichkeiten kommen und scheinen sich zu ergänzen, wir verfolgen eine Bahn, deren Gleise sich ergeben haben. Doch wo führt uns das hin? Und ist es das, wo wir wirklich hinsteuern wollen? Wenn nicht - was ist es dann?

Und plötzlich ist es gar nicht so leicht. Wir haben Dinge, die wir gut können, für die wir Anerkennung bekommen, die uns guttut. Doch ist es auch das, worin unsere Leidenschaft besteht? Kann man das immer so gut auseinanderhalten? Wissen wir überhaupt, worin diese Leidenschaft besteht, oder wurde sie uns viel zu früh für unerreichbar, absurd, nicht machbar erklärt oder haben wir sie uns selbst gar ausgeredet? Haben wir sie längst gefunden und trauen sie uns selbst nicht zu?

Ich weiß es nicht, aber ich glaube wir jungen Menschen um die Dreißig – uns vereint das Gefühl der Unklarheit, wo wir von uns selbst eigentlich Klarheit erwarten. Und wir sollten darüber reden. Sollten uns austauschen und das Gefühl der Unsicherheit zulassen. Denn oft sehen uns andere Menschen viel klarer, sehen, wer wir eigentlich sind. Und wann der Moment kommt, im dem uns die Leidenschaft einnimmt und wir mitten in einem Film die Stopptaste drücken und diesen Artikel schreiben. Das, ja das ist dann wohl wirklich unsere Leidenschaft. Die Vision, über die wir uns viele Nächte lang den Kopf zerbrochen haben. Wir müssen sie nur zulassen. Wenn wir auf unseren Bauch hören und den Kopf mal abschalten. Ein kurzer Moment. Manche mögen ihn Inspiration nennen.